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Die Macht der ungeschriebenen Regeln

Der geheime Schlüssel zur Immersion

5 Minuten Lesezeit

Oft werden im Bezug zur Spielleitung und der Spielwelt Begriffe wie Konsistenz und Inkonsistenz verwendet. Doch was ist damit gemeint? Und warum ist das überhaupt wichtig?

Um der Bedeutung näher zu kommen, muss man zunächst verstehen, dass neben den offiziellen geschriebenen Regeln des Player's Handbook, Dungeons Master's Guide und den vielen anderen Büchern, am Spieltisch noch viel mehr Regeln existieren. Diese sind jedoch nicht niedergeschrieben. Die Rede ist von den Regeln, welche die Spielleitung durch die Spielwelt aufstellt.

Wenn die Spieler:innen von der Spielleitung durch die Welt geführt werden, Abenteuer erleben, das Böse besiegen und Stufen aufsteigen, könnte man meinen, dass die Regeln aus den Büchern die größte Rolle spielen. Meiner Meinung nach ist das Gegenteil der Fall. In den wenigsten Momenten beruft man sich auf die Regeln aus den Büchern. Viel öfter treffen die Spieler:innen Entscheidungen anhand ihres Verständnisses, wie die Spielwelt funktioniert und welche Freiheiten sie ihnen gibt. Sogar die Konsequenzen ihres Handelns werden durch diesem Regelsatz definiert und eben auch legitimiert.

Tödliche Eisstürme

Etabliert beispielsweise die Spielleitung in einer Homebrew-Welt die Realität, dass die Umgebung von tödlichen Eisstürmen heimgesucht wird, welche jede Nacht auftreten – dann steht das in keinem Regelbuch. Es wird dennoch maßgeblich das Erlebnis und die Entscheidungen der Spieler:innen beeinflussen.

Sie werden höchstwahrscheinlich alles dafür tun, dass sie Nachts vor den Stürmen geschützt sind. Die Spielleitung wird ihnen Auskunft darüber geben, welche Möglichkeiten es dafür gibt. Gegebenenfalls möchten die Spieler:innen den Ursprung dieser Stürme erfahren und erleben, wie es die Bewohner der Spielwelt beeinflusst.

Folgen wir diesem Beispiel. Nach wenige Minuten Spielzeit könnte folgender ungeschriebener Regelsatz entstehen:

  • Nach Sonnenuntergang, bis Sonnenaufgang wütet ein tödlicher Eissturm, welcher alle Kreaturen in Sekunden zu Eisstatuen verwandelt.
  • Die Eisstürme können von niemandem aufgehalten werden.
  • Es kursiert das Gerücht, dass ein uralter Eisdrache im Inneren der Welt die Stürme erzeugt.
  • Die Spieler:innen sind nur in unterirdischen Höhlen vor den Stürmen geschützt.
  • Es existieren unzählige Kulte und Sekten, welche versuchen mit Opfern und anderer Magie die Bewohner:innen dieser Welt zu einen und ihnen Schutz zu bieten.
  • Das höchste Gut in der Welt ist ein Kristallwasser, welches es ermöglicht, die Opfer des Eissturms wieder aufzutauen und ihnen das Leben zu schenken.

Ich kann es nicht oft genug hervorheben: Diese Regeln bestimmten zum Großteil das Erlebnis der Spieler:innen. Denn das Erlebnis besteht aus Interaktionen mit der Spielwelt und diese Interaktionen werden von den Regeln bestimmt, welche durch die Spielwelt aufgestellt werden. Die Spielwelt wiederum wird von der Spielleitung erschaffen – welche somit die Kontrolle über diese ungeschriebenen Regeln inne hat.

Der Umstand, dass diese Regeln nicht von den Spieler:innen nachgeschlagen werden können, zeigt, welche große Verantwortung die Spielleitung trägt, dafür zu sorgen, dass diese Regeln eingehalten werden – verlässlich, beständig und nachvollziehbar sind – eben konsistent.

Inkonsistenz als Werkzeug nutzen

Es gibt eine gute Nachricht. Erstens, ist es relativ einfach, die eigene Spielwelt konsistent zu halten. Zweitens, kann die Spielleitung versehentliche Inkonsistenz leicht in spannende Plot-Twists, Rätsel, Abenteuer und Geheimnisse verwandeln.

Sehen wir uns zunächst an, über welche zwei Wege, die eigene Spielwelt inkonsistent werden kann:

  • Die bestehenden Regeln werden sporadisch außer Kraft gesetzt. Beispiel: Plötzlich ist es eher zufällig, ob sich Kreaturen in Eisstatuen verwandeln oder auf einmal können die unterirdischen Höhlen die Eisstürme doch nicht aufhalten.

  • Es werden neue Regeln eingeführt, welche die alten obsolet, unwirksam oder unwichtig machen. Beispiel: Eine Gruppierung, welche Unmengen an Kristallwasser besitzt, verschenkt dieses an die Bevölkerung und bannt damit die Bedrohung durch die Eisstürme. Die Spieler:innen finden einen Zauber, welcher ihnen erlaubt, frei durch die Eisstürme zu passieren.

Bedeutend ist, dass in den meisten Fällen Spieler:innen bei dem ersten Kontakt mit einer eigentlichen Inkonsistenz nicht der gesamten Spielwelt ihre Legitimität absprechen, sondern stattdessen die Inkonsistenz als Ausnahme betrachten – als Anomalie. In den meisten Fällen wollen sie dieser Anomalien auf den Grund zu gehen. Dieser Umstand zeigt erneut, wie stark diese ungeschriebenen Regeln das Spielerlebnis bestimmen. Sie sehen die Anomalie als Teil der Spielwelt – als eine Art Rätsel, welches es zu lösen gilt.

Das Besondere hierbei ist, dass eine Anomalie die stille Verpflichtung an die Spielleitung stellt, dafür zu sorgen, dass eine schlüssige, nachvollziehbare Lösung existiert. Existiert diese nicht oder bekommen die Spieler:innen das Gefühl, dass diese Anomalie gar nicht Teil der Spielwelt ist, fällt die Maske und sie enttarnt sich als Inkonsistenz.

Ab diesem Punkt zweifeln die Spieler:innen an der Welt, der Fähigkeit der Spielleitung die ungeschriebenen Regeln zu kontrollieren und viel schlimmer noch – sie zweifeln an allen vergangenen Ereignisse des Abenteuers, seien es Erfolge oder Niederlagen. Ich brauche nicht zu betonen, dass das eines der unglücklichsten Situationen ist, in welcher sich eine Spielleitung wiederfinden kann.

Darum ist es ungemein wichtig, eine Erklärung für versehentliche Inkonsistenzen parat zu haben, damit die Spieler:innen das Rätsel lösen können. Nur mit einer nachvollziehbaren Lösung, bleibt die Konsistenz bestehen.

Die Dosis macht das Gift

Das man Inkonsistenzen als Story-Element nutzen kann ist kein Zufall oder eine Besonderheit von Pen & Paper. Plot Twists funktionieren genau so.

Wahrheiten bzw. Regeln die über mehrere Situationen etabliert wurden, erfahren eine plötzliche Wendung, welche nicht vorhersehbar war. Überlegen wir uns an dieser Stelle, was ein Film mit uns machen würde, der alle fünf Minuten eine Plot Twist hat und Wahrheiten, die gerade etabliert wurden, wieder umwirft. Dieser hypothetische Film und seine Welt wirkt voller Zufälle, Willkür und ohne jede Kontrolle – inkonsistent. Nach kurzer Zeit kann man Wendungen und Entwicklungen nicht mehr ernst nehmen.

Eben deswegen sollte es mit Bedacht eingesetzt werden, Inkonsistenzen als Anomalien (Plot Twists) zu tarnen. Schnell kann es passieren, dass man sich bei zu häufiger Verwendung ein Kartenhaus aus Verpflichtungen gegenüber den Spieler:innen baut, welches niemals aufgelöst werden kann und irgendwann in einem Sturm aus Fragen und Frust zusammenstürzt. Es ist ungemein wichtig, genug Regeln bestehen zu lassen, um den Spieler:innen ein gesundes Maß an Kontrolle über die Spielwelt zu geben und dafür zu sorgen, dass Plot Twists eine Ausnahme bleiben und die Spieler:innen überraschen.

Darum gilt es zu vermeiden, die bestehenden Regeln in hoher Taktrate mit neuen Regeln zu ergänzen. Sonst würde in kürzester Zeit ein so großer Regelsatz entstehen, über welchen weder Spieler:innen, noch Spielleitung einen Überblick haben. Eine solche Welt wirkt unkontrollierbar, unvorhersehbar und schlicht kompliziert. Eben wie ein Film, welcher alle fünf Minuten das Publikum mit einem Plot Twist "überrascht".

Fazit

Das Spielerlebnis wird zum Großteil von ungeschriebenen Spielregeln bestimmt. Eine Spielleitung ist Herr dieser ungeschriebenen Regeln. Dafür gilt es sich zu organisieren, zu verstehen, welchen Regeln die Spieler:innen besondere Beachtung schenken und gegebenenfalls gezielt Regeln zu brechen und somit für spannende Rätsel und Plot Twists zu sorgen.

Zu jedem Zeitpunkt müssen die Spieler:innen das Gefühl haben, dass sowohl sie selbst, als auch die Spielleitung die Kontrolle über die Welt hat. Denn Inkonsistenz kann nur in einer konsistenten Spielwelt existieren.